Jetzt klagen auch Kinder über Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Ist unser Nachwuchs den Anforderungen in Schule und Freizeit noch gewachsen?

Nina Streeck, NZZ am Sonntag

Charlotte schläft schlecht. Oft plagen sie Bauchschmerzen, vor allem morgens und abends. Dann weint sie im Bett. Sie hat Angst. Angst, am nächsten Morgen in die Schule zu gehen. Tag für Tag muss ihre Mutter sie überreden. In der Schule hält die Neunjährige es kaum noch aus und kann sich schlecht konzentrieren. Darum macht sie sich nun auch Sorgen um ihre Noten und hat noch mehr Angst. Obwohl sie immer eine gute Schülerin war.

Von Kindern wie Charlotte erzählt der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort in seinem Buch «Burnout-Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert». «Solche Kinder sitzen in grösserer Zahl vor mir», sagt er. Kinder, die über Erschöpfung klagen, die von Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit berichten, die abends nicht einschlafen können, die sich traurig fühlen, die Kopf- und Bauchschmerzen haben und appetitlos sind, die Probleme mit der Aufmerksamkeit in der Schule bekommen. Seit fünf Jahren begegnen Schulte-Markwort Kinder mit diesen Symptomen. Doch was sollte er davon halten?, fragte er sich lange.

Wer ausbrennt, muss zuvor gebrannt haben. Es ist keine Schande, daran zu erkranken.

Ein Burnout befällt die Leistungswilligen. «Erst habe ich mich innerlich gewehrt gegen das, was sich mir da aufdrängte», sagt er. Er dachte, das könne nicht sein. Das gebe es nur in der Erwachsenenwelt. Aber dann entschloss er sich, die Sache beim Namen zu nennen: «Die Kinder leiden an Burnout.» Was man bisher nur bei Erwachsenen kannte, soll nun also auch Kinder und Jugendliche betreffen. Weil Schulte-Markwort eine Debatte anstossen möchte, hat er sein Buch verfasst: Warum werden die Kinder krank? Welche Verantwortung tragen wir Erwachsenen? Was können wir tun?

Was sich hinter dem schillernden Begriff Burnout verbirgt, ist alles andere als klar. Im vergangenen Jahrzehnt brach unter Erwachsenen eine regelrechte Epidemie aus. Von Jahr zu Jahr meldeten sich mehr Leute krank, weil sie sich ausgebrannt und erschöpft fühlten. In den einschlägigen Diagnose-Manualen lässt sich Burnout als Krankheit allerdings nicht finden. So kursiert seit längerer Zeit der Verdacht, es handele sich um eine erfundene Krankheit, die dem Zeitgeist entspricht und durchaus positive Züge trägt. Denn wer ausbrennt, muss zuvor gebrannt haben. Es ist keine Schande, daran zu erkranken, im Gegenteil. Ein Burnout befällt die Engagierten und Leistungswilligen. Und jetzt also auch Kinder.

Einer, der Zweifel daran hegt, ist Kinder- und Jugendpsychiater Klaus Schmeck von der Universität Basel. «Man muss nicht mehr Diagnosen erfinden», sagt er, «sondern die, die es gibt, adäquat anwenden.» Was Schulte-Markwort Burnout nennt, würde Schmeck als Depression bezeichnen. Und sie entsprechend behandeln. «Die Diagnose Burnout ist beliebt, weil sie impliziert, jemand habe Grosses geleistet, während bei einer Depression viele denken, das Kind sei schwach.»

Daran ist einerseits etwas Wahres, andererseits führt die Vermutung von Schwäche in die Irre. Wer an einer Depression erkrankt, ist tatsächlich entsprechend konstituiert. So wie manch einer mit einer Veranlagung zu schlechten Zähnen, Migräne oder Allergien zur Welt kommt, sind einige Menschen eher disponiert, im Laufe ihres Lebens eine psychische Krankheit zu entwickeln. Tatsächlich mache die Hälfte von uns eine seelische Störung durch, über ein Fünftel erlebe eine depressive Episode, sagt Schmeck. Bei gut einem Drittel der Erwachsenen in Europa lässt sich innerhalb eines Jahres eine seelische Erkrankung diagnostizieren. In der Schweiz bezeichnete sich in der Gesundheitsbefragung 2012 ein knappes Fünftel als psychisch belastet. Für Kinder und Jugendliche existieren keine entsprechenden Daten.

Statt von Burnout spricht Schmeck lieber von einer «mangelnden Passung zwischen den Fähigkeiten des Kindes und den Anforderungen an es». In der Sache stimmt er seinem Kollegen Schulte-Markwort zu: «Kinder können überfordert sein und in den Zustand der Erschöpfung kommen.» Auch er wünscht sich eine Diskussion über die hohen Erwartungen von Eltern, Lehrern und Gesellschaft an die Kinder.

Denn darin sieht Schulte-Markwort die Ursache dafür, dass so viele erschöpfte Kinder in seiner Ambulanz aufkreuzen. Überall seien die Kinder mit dem «Prinzip Leistung» und einer umfassenden Ökonomisierung des Lebens konfrontiert. Zu Hause erleben sie gestresste Eltern, die bis zum Umfallen arbeiten und den Druck an ihre Kinder weitergeben, indem sie gute Schulnoten verlangen. Der Stundenplan in Schule und Freizeit ist vollgestopft, die Anforderungen in der Schule hoch. Die Kinder und Jugendlichen verinnerlichen das und erwarten von sich selbst, dem zu genügen; sie vergleichen sich miteinander auf Facebook. Es ist ein ganzer Strauss von Stressfaktoren, den Schulte-Markwort identifiziert.

Eine zwiespältige Sache

«Natürlich gibt es überlastete und erschöpfte Kinder», sagt dazu der Sozialwissenschafter Peter Rüesch von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Aber das ist kein medizinisches Problem.» Zwar teilt er mit seinen Kollegen die Einschätzung, dass etwas faul ist, wenn Kinder über Erschöpfung klagen. Nur findet er es nicht hilfreich, daraus eine neue Krankheitsdiagnose zu stricken und die Lösung des Problems damit Ärzten zu überlassen.

Solche Zuschreibungen kann man als Medikalisierung bezeichnen: Ärzte behandeln, was früher nicht als Krankheit galt, wie Kinderlosigkeit und Stress im Job. Oder sie widmen sich der Verbesserung des Lebens, statt Erkrankungen zu therapieren, saugen Fett ab oder verschreiben Anti-Ageing-Produkte. Für zwiespältig hält das Rüesch mit Blick auf die neue Diagnose Kinder-Burnout: «Einerseits werden die Familien entlastet, wenn klar wird, dass es dem Kind nicht an Leistungsbereitschaft mangelt», sagt Rüesch. «Andererseits bewerten wir ein Verhalten als krank und behandlungsbedürftig, das wir früher vielleicht als schwierig, aber doch noch normal angesehen haben.»

Die Diskussion ist bekannt vom «Zappelphilipp-Syndrom». Seit den 1980er Jahren macht die Diagnose ADHS Karriere. Aber warum? Gab es die Krankheit zuvor nicht? Hat die Pharmaindustrie sie erfunden, um möglichst viel Ritalin zu verticken? Haben wir es mit einer blossen Mode zu tun, die bald wieder verschwindet? Solche Fragen stellen sich auch beim Burnout.

Zwei bis drei Prozent der Kinder leiden an einem Burnout, meint Schulte-Markwort. Bei Erwachsenen scheint die Diagnose bereits rückläufig zu sein, jedenfalls in Deutschland: Die Krankenkasse DAK meldet für das Jahr 2013 ein Drittel weniger Fehltage als 2012 und sieht eine Fortsetzung dieses Trends 2014. Burnout, so scheint es, ist wieder aus der Mode. «Die Zahlen sagen nur etwas über unsere Bereitschaft aus, jemandem eine Diagnose zu stellen», sagt dazu der Frankfurter Soziologe und Psychologe Martin Dornes. «Epidemiologisch lässt sich keine Zunahme psychischer Krankheiten in den letzten 30 Jahren feststellen.»

Dornes hat in seinem umfangreichen Buch «Die Modernisierung der Seele» detailliert untersucht, ob es um Kinder und ihre Eltern heute wirklich so übel bestellt ist, wie die Vielfalt an öffentlichen Klagen vermuten lässt. Sein Fazit: Ganz und gar nicht – eher zeigt sich eine «Konstanterhaltung des psychischen Negativitätsbedarfs». Auf Deutsch: Wir brauchen immer Gründe, um zu jammern. Kinder und Jugendliche von heute haben keineswegs übermässigen Stress, sondern vergleichsweise traumhafte Bedingungen: «Wenn man 1960 in der Schule nicht schreiben konnte, wurde man aussortiert», sagt er. «Heute wird eine Legasthenie diagnostiziert und eine Therapie angesetzt.»

Gefragt ist Gelassenheit

Bei Kindern Burnout zu vermuten, hält er deswegen eher für Alarmismus, der zu einem «Prinzessin-auf-der-Erbse-Effekt» führen kann: Wir klagen über Beschwerden, die wir früher ertragen haben. Das, meint Dornes, hat mit der «wachsenden Penetranz sinkender Restgrössen» zu tun. Geht es uns besser, spüren wir verbleibende Mängel umso schmerzlicher. Doch sieht Dornes das keineswegs nur negativ, sondern auch als Zeichen einer «Zivilisierung und Sensibilisierung». Wir schauen genauer hin, wie es Kindern und Jugendlichen geht, reagieren feinfühliger auf Auffälligkeiten und scheuen uns weniger, ein Symptom als Krankheit zu betrachten und einer Behandlung zuzuführen. Solange das im Modus der Gelassenheit geschieht, ist Dornes durchaus einverstanden. Wie sein Basler Kollege Schmeck hielte er allerdings lieber an den klassischen Diagnosen fest, statt von Burnout zu sprechen.

Bei Charlotte, der kleinen Patientin von Schulte-Markwort, würde seine Ferndiagnose auf Angstneurose lauten. Einen «marketingstrategischen Schachzug» vermutet er hinter dem Buchtitel «Burnout-Kids». Was Schulte-Markwort durchaus einräumt: «Der Verlag hat mich dazu gedrängt, weil der Begriff Burnout ein Vehikel sei, eine Diskussion anzustossen», sagt er.


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