Veröffentlicht am 18. Dezember 2018 auf Linkedin
Bjoern Waide
Das Boarding ist abgeschlossen, der Kapitän nuschelt einige Worte durch den Lautsprecher, gleich folgen die Sicherheitshinweise – spätestens jetzt klappern die Tastaturen, werden letzte Telefonate vor Abflug geführt, Bücher aufgeschlagen oder die Augen geschlossen. Verständlich, da die Sicherheitshinweise nun wirklich keinen Neuigkeitswert bieten, und doch schade, da in ihnen eine profane und zugleich elementare Wahrheit versteckt ist, die insbesondere all jene Vielflieger und selbsternannte High-Performer allzu gerne vernachlässigen oder ignorieren. Es geht um die Atemmaske, die im Fall eines Druckverlustes von der Decke der Kabine herabfällt. Eindringlich warnt die Stimme vom Band, zuallererst selbst nach einer rettenden Atemmaske zu greifen, bevor man sich um andere Mitreisende und Kinder kümmert. Ein einleuchtender Hinweis: Wer selbst keine Luft mehr kriegt, der kann kaum anderen helfen.
Wir beuten uns aus, ohne eigentlich zu wissen wofür
In unserem beruflich-privaten Kontext schaffen wir es jedoch immer wieder, diese banale Wahrheit zu ignorieren. Wir beuten uns aus, ohne eigentlich zu wissen wofür. Wir rennen vermeintlichen Idealen nach, ohne kritisch zu prüfen, ob diese Ideale tatsächlich unsere eigenen Ideale sind. Wir denken an alle anderen, nur nicht an uns selbst – mit verheerenden Konsequenzen. Genau wie ein Unternehmen meist nur dann erfolgreich ist, wenn es eine klare Mission benennen kann, hinter der sich die Mitarbeiterschaft versammeln kann, so braucht auch der Mensch als Individuum etwas, das ihn antreibt, das ihn leitet, das der Grund ist, all die Mühen auf sich zu nehmen. Nennen wir dieses Ziel: „Ein gutes Leben“. Dann ist es genau das, was über allem Anderen, auch dem Beruflichen, steht.
Aktive Entscheidungen treffen anstatt als passive Manövriermasse durchs Leben zu treiben
Doch was ist das eigentlich, ein gutes Leben? Die Übersetzung dessen, was ein gutes Leben ausmacht, kann – ja muss – jeder selbst für sich übernehmen. Es ist das Privileg und gleichzeitig die Verantwortung unserer Zeit, dass wir uns selbst bewusst mit unseren Wünschen, Zielen und Träumen auseinandersetzen dürfen. Mag das Ergebnis eines solchen Reflexionsprozesses also höchst individuell ausfallen, so ist der Weg dorthin doch vergleichsweise standardisiert. Am Anfang steht die Frage: Was ist eigentlich wichtig in meinem Leben? Sich dieser Frage zu stellen, kostet nicht selten einiges an Mut und Überwindung, ist sie doch nur zu beantworten, wenn man für einen Moment Pause drückt, sich aus dem Zustand der Dauerberieselung und Alltagsroutine löst und sich per bewusster Entscheidung Raum für und mit sich selbst schafft. Es kann auch durchaus unbequem sein, sich solche elementaren Fragen zu stellen. Denn die kritische Bestandsaufnahme des eigenen Ichs kann auch unangenehme Eingeständnisse zu Tage fördern. Und doch ist die Selbstreflexion, die analytisch-kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, die Grundlage, um darauf aufbauend aktiv Entscheidungen im Großen und Kleinen zu treffen anstatt als passive Manövriermasse durchs Leben zu treiben.
Effizienz darf immer nur ein Mittel zum Zweck sein, nie aber Selbstzweck
Am Ende eines solchen Reflexionsprozesses stehen häufig Widersprüche oder zumindest Spannungsfelder. Wie vereinbare ich beispielsweise meinen Wunsch nach beruflicher Anerkennung und herausfordernden Aufgaben mit meinem Wunsch, möglichst viel Zeit mit meiner Familie zu verbringen? Vor solchen oder ähnlichen Herausforderungen stehen viele Menschen und genau an dieser Stelle kommt nun das ins Spiel, was häufig abschätzig als Selbstoptimierung gelabelt wird. Wer unterschiedlichste Interessen unter einen Hut bringen will, weil sie ihm allesamt ein wichtiges Anliegen sind, der muss an manchen Stellen Abläufe optimieren und effizient agieren. Der große Unterschied zu stumpfer Leistungsethik ist jedoch, dass die Effizienzsteigerung hier lediglich ein Mittel zum Zweck ist, jedoch nie ihr Selbstzweck. In gewisser Weise gilt: Man muss an manchen Stellen effizient agieren, um sich erwünschte Ineffizienzen oder Freiräume an anderer Stelle erlauben zu können. Ich selbst stehe beispielsweise morgens meist um 5:30 Uhr auf. Der Grund dafür ist einfach: Ich habe über die Jahre festgestellt, dass ich für mein eigenes Wohlergehen Zeit brauche, in der ich nur für mich selbst bin, in der ich lese, Sport mache, meditiere oder einfach nachdenke. Ich habe zwei Kinder, bin Geschäftsführer eines Unternehmens mit 30 Mitarbeitern und weiß, dass ich diese Zeit nur finde, wenn ich sie mir früh am Morgen nehme. Eine andere Entscheidung: Meine Tür steht den ganzen Tag für mein Team offen, doch meine Mittagspausen verbringe ich bewusst alleine, weil ich sie als Pausen verstehen will, als ein kurzes Zeitfenster, in dem ich Zeit nur für mich habe, meine Gedanken und Aufgaben sortieren kann, mich mit mir selbst auseinandersetzen kann. Das sind bloß persönliche Beispiele, die sich über Zeit aus der kritischen Auseinandersetzung mit meinen eigenen Bedürfnissen entwickelt haben. Bei anderen Menschen mag diese Selbstreflexion zu ganz anderen Ergebnissen führen – das ist gut und richtig. Oder anders gesagt: Es geht hier überhaupt nicht um richtig und falsch. Es geht nur darum, die Dinge bewusst zu tun, Entscheidungen im Wissen um seine eigenen Bedürfnisse zu treffen anstatt sich von der vermeintlichen Erwartungshaltung anderer treiben zu lassen.
Erfolg ist letztlich die Konsequenz aus einem ausgeglichenen Leben
Und was hat das alles mit Karriere zu tun? Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass beruflicher Erfolg nur denjenigen blüht, die sich ohne Rücksicht auf ihr eigenes Befinden bedingungslos externen Anforderungen ausliefern, die bis tief in die Nacht arbeiten, sich selbst zerfleischen, um vermeintlichen Erwartungen gerecht zu werden. Ich glaube, dass das Gegenteil der Fall ist. Nicht nur Effizienz, sondern auch Karriere und Erfolg können nie Selbstzweck sein, sondern sind lediglich eine Konsequenz aus einem guten, ausgeglichenen Leben. Vielleicht ist eine erfolgreiche Karriere gar nichts weiter als ein Abfallprodukt aus einem Leben, das Tag für Tag Spaß und zufrieden macht. Doch der Weg dahin führt nicht über 80-Stunden-Wochen und eine maximale Durchökonomisierung der gesamten Lebensrealität. Erst recht in Zeiten, in denen reine Fachlichkeit zunehmend durch Künstliche Intelligenz und Automatisierung ersetzt wird, brauchen wir Persönlichkeiten, die neben vielfältigen Qualitäten vor allem auch Empathie und Rücksicht für ein immer vielfältigeres Arbeitsumfeld mitbringen.
Der Workaholic ist ein Relikt aus der vordigitalen Zeit
Doch wie wollen wir Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nehmen, wenn wir nicht einmal auf unsere eigenen Bedürfnisse Rücksicht nehmen? Wie wollen wir Verantwortung für das Wohlergehen anderer tragen, wenn wir nicht einmal Verantwortung für unser eigenes Wohlergehen übernehmen? Der Workaholic, geprägt durch die Managergenerationen der alten BRD und heute mit hippem Anstrich in den Startup-Hochburgen zu finden, ist tot. Er ist nicht mehr zeitgemäß und existiert bloß noch als falsches Vorbild, als Relikt aus der vordigitalen Zeit, in der Viel tatsächlich Viel half. Es ist unser Privileg und unsere Verantwortung, dass wir Räume haben, um unsere vielfältigen Interessen zu erforschen und auszuleben. Damit das gelingt, braucht es jedoch ein wirkliches Selbstbewusstsein, im Wortsinne Bewusstsein für das Selbst, für eigene Bedürfnisse und Wünsche. Wenn uns das gelingt, wenn wir den Mut haben, uns selbst und unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen, dann kommen Erfolg oder Karriere als Konsequenz ganz von allein.