Ja, ich bin gestresst! – und jeder vierte Schweizer Werktätige auch (AZ, 14.8.2015)


Von Silvana Schreier, Aargauer Zeitung, 14.8.2015

Ich bin gestresst. Wegen der Arbeit. Um ehrlich zu sein: Wegen genau diesem Artikel. Während ich diesen Artikel schreibe, messe ich mit dem sogenannten «Stress-Checker» vom niederländischen Unternehmen Respilex meine Pulsfrequenz. Diese kleine Maschine lässt sich an den Computer anschliessen, der mir dann die erschreckenden Ergebnisse mitteilt: Ich befinde mich in einer Stresssituation. Das weiss ich bereits.

Der «Stress-Checker» sagt mir auch, wie schlimm es um mich steht: «Ihr vorläufiger Relax-Index beträgt Stress/Müdigkeit/Krankheit.» Was kompliziert klingt, ist eine schlechte Nachricht: Ich bin gestresst. Deshalb gönne ich mir jetzt eine Reihe meiner Lieblingsschokolade. Okay, es sind drei Reihen. Normalerweise tu ich das nicht, versprochen. Ich beisse lieber in einen frischen Apfel. Doch ich brauche eine Belohnung, deshalb entscheide ich mich für den ungesunden Snack. Mit meinem Stress-Problem bin ich nicht alleine. Viele Dinge stressen uns im Alltag: der Stau am Morgen, die viel zu kurze Mittagspause, eine Auseinandersetzung mit dem Chef. Da ist es doch verständlich, dass wir abends lieber einen süssen Muffin anstelle der Karotte essen.

Warum gestresste Menschen eben solche Entscheidungen treffen, hat Silvia Maier vom Labor zur Erforschung Sozialer und Neuronaler Systeme der Universität Zürich untersucht. Sie untersuchte am Beispiel Essen, wie wir uns in Stresssituationen unter Kontrolle haben: Die Probanden wurden im Labor akut gestresst, dann wurden sie vor die Entscheidung zwischen zwei Speisen gestellt. «Je mehr sie sich gestresst fühlten, desto weniger stellten sie ihren Wunsch, etwas Leckeres zu essen, zugunsten der Gesundheit zurück», erklärt Maier.

Für den Alltag könnte diese Erkenntnis Folgendes bedeuten: «Wir sollten uns bewusst machen, dass Stress uns dazu bringen kann, kurzfristige Lösungen als attraktiver anzusehen», sagt die Hauptautorin der kürzlich erschienenen Studie. Doch wie soll man der Versuchung nach Schokolade widerstehen? Maier: «Wenn man weiss, dass man nach einem stressigen Tag häufig seine Schokoladenvorräte plündert, könnte die Lösung darin bestehen, den Vorrat nicht mehr aufzufüllen.» So würde man der Versuchung gar keine Chance geben.

Job wird psychische Belastung

Meinem Stress-Problem hilft dieser Tipp leider nur wenig. Die Hälfte der Schokolade, die auf meinem Schreibtisch lag, habe ich ja bereits verputzt. Ausserdem ist der Artikel nicht mal annähernd fertig. Und die Uhr tickt.

Dass 24,8 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz an ihrem Arbeitsplatz übermässig gestresst sind, hat auch die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz erkannt. Ab 2014 führt sie nun jährlich die Studie «Job-Stress-Index» durch. Damit soll die Entwicklung der Stressbelastung aufgezeigt werden. Die Arbeit kann zur psychischen Belastung werden. In den «Job-Stress-Index» wird auch die Wirtschaft einbezogen: Stress verursacht bei den Betrieben jährlich Ausgaben von fünf Milliarden Franken, wie die Stiftung Anfang 2015 mitteilte. Demnach sollte es im Interesse der Unternehmen sein, dass der Stress reduziert wird. Gestresste Mitarbeitende sind weniger produktiv und leistungsfähig. Zudem melden sie sich vermehrt krank.

Arbeiter gefährden sich selbst

Die steigenden Zielvorgaben in den Unternehmen fördern ein selbstgefährdendes Verhalten der Arbeitnehmer. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann Stiftung. In Deutschland erscheine jeder Achte krank bei der Arbeit. Ausserdem würden vermehrt leistungssteigernde Substanzen wie Nikotin oder Medikamente konsumiert werden. Grund dafür sind die stetig wachsenden Anforderungen, denen die Arbeitnehmer nicht gerecht werden können. Sie fühlen sich ausgebrannt und sind überarbeitet. Nicht selten endet übermässiger Stress in einem Burnout, einem umfassenden Erschöpfungszustand.

Die hohe Zielvorgabe verdanke ich hauptsächlich mir selbst. Also bin ich auch selbst für meinen jetzigen Stresszustand verantwortlich. Helfen tut diese Erkenntnis aber nur bedingt, denn steckt man einmal in der Stress-Spirale drin, dreht diese unermüdlich weiter.

Um ein Burnout frühzeitig erkennen zu können, hat die Klinik Barmelweid den Online-Test «Burnout-Risiko-Test» entwickelt. Anonym und kostenlos kann er einem innert weniger Minuten eine Diagnose stellen. «Mit diesem Test kann man herausfinden, wo die individuellen Belastungen liegen, um dann gezielt intervenieren zu können», erklärt Roland von Känel, Chefarzt für Psychosomatik an der Klinik Barmelweid. Der Test stellt mehrere Fragen zu Stimmung, Schlafqualität und Stress. Das sofortige Resultat gibt eine Empfehlung ab: «Gefährdete Personen sollen sich primär an ihren Hausarzt wenden», sagt der Stressforscher von Känel.


Rolf Hess vom Schweizerischen Ausbildungsinstitut für Burnout-Prävention und Lebensberatung steht dem Test skeptisch gegenüber: «Eine Person, die wirklich im Stressrad gefangen ist, ist nicht fähig, ihren tatsächlichen Zustand richtig abzuschätzen.» Ausserdem seien solche Tests meist «sehr oberflächlich und meist wenig aussagekräftig». Gefährdeten Personen rät er, sich bei Freunden oder beim Hausarzt Hilfe zu holen.

Den Burnout-Test hab ich vorsorglich mal gemacht. Mit dem Resultat: Ich bin nicht gefährdet. Zumindest noch nicht. Damit es gar nicht erst so weit kommt, habe ich nun auch noch den Rest meiner Lieblingsschokolade verspeist. Und der Artikel ist fertig.

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